Michael Pitz
Stimmungsspiel: Super Mario Odyssey
Aktualisiert: 7. Nov. 2022
Super Mario Odyssey steckt voller Liebe und Begeisterung für das Medium Spiel – und ist das perfekte Ticket für eine Reise in die eigene Kindheit.

»Arbeit, Arbeit«, ruft der Peon aus Warcraft 3 (2002), der Teil der niederen (orkischen) Arbeiterkaste ist. »Arbeit, Arbeit«, immer wieder. Und dann macht er sich ans Werk. Er tut genau, was ich ihm sage.
Ich fühle mich schlecht.
Hat der Peon das verdient, dieses gesichtslose Dasein, das Ausfüllen seiner Rolle in der Fabrik des Lebens? Auch er hat ein bisschen Spaß verdient, statt nur mit der immergleichen Animation auf Bäume oder Felsen einzudreschen. Lieber Peon, hast du nicht Lust, mit mir Super Mario Odyssey zu spielen? Denn wenn ich ein Spiel nennen müsste, das puren Spaß verkörpert, dann wäre es dieses.
Einmal wieder Kind sein
Das Leben der meisten Erwachsenen in unserer westlichen Welt ist zwar bei Weitem nicht so schlimm wie das des Peons, aber auch uns würde es guttun, uns häufiger an unsere Kindheit zu erinnern; daran, wie es war, wirklich freie Zeit zu haben, in der wir weder an den nächsten Arbeitstag noch an die anstehende Heizkostennachzahlung denken. In der wir uns weder mit Erwachsenen-Ängsten noch mit der Frage, was wir mit unserem Leben eigentlich anfangen möchten, beschäftigen müssen. In der wir … ach, ihr wisst schon, was ich meine. Es ist Zeit, einen Ausflug in die eigene Kindheit zu machen. Denn wenn wir uns aktiv darum bemühen, können wir uns ein Stück der Unbeschwertheit aus dieser frühen Phase des Lebens zurückholen – zumindest für ein paar Stunden.
Wirklich vom Alltag abschalten und sich Nostalgie wie eine kuschelige Decke über die Schultern legen, lautet das Motto. Mir gelingt das beispielsweise, wenn ich mir Episoden aus der ersten Staffel Pokémon ansehe. Ash mit seinen Freunden Misty und Rocko auf ihren Reisen durch Kanto zu begleiten, erinnert mich immer an Nachmittage nach der Schule, an denen ich Omas Essen extra schnell verschlungen habe, um keine Minute der heutigen Folge Pokémon zu verpassen.
Manchmal finde ich die aus Nostalgie gewebte Decke auch rein zufällig. Das können Bilder und Gerüche sein, die mich an meine Kindheit erinnern, genau wie Lieder, plötzlich aufploppende Erinnerungen … oder eben Spiele. Mit denen lässt sich ein gedanklicher Ausflug in meine Kinderjahre besonders einfach realisieren: Ich starte einfach Pokémon Rot (1996) oder Gold (1999) und ihr seht mich erst wieder, wenn ich alle Orden erkämpft und die Champions der Pokemón-Liga bezwungen habe. (Ihr seht schon, dieses Franchise hat es mir angetan; ich komme garantiert in einem zukünftigen Artikel der Reihe Stimmungsspiele darauf zurück.). Pokémon funktioniert für mich einfach dadurch, dass es Pokémon ist.
Bei Super Mario Odyssey war es anders: Zwar habe ich als Kind schon Super Mario 64 (1996) auf dem Nintendo 64 gespielt, aber der Klempner mit der blauen Latzhose hat es nie geschafft, in meinem Kopf in die Schublade »Kindheitsklassiker« einsortiert zu werden. Umso überraschter war ich, als mich das erste neue 3D-Mario-Spiel für Nintendo Switch mit einer Ladung kindlicher Unbeschwertheit überhäuft hat.

Mario springt auf die Switch
Nicht wenige waren irritiert, als Mario im ersten Trailer zu Super Mario Odyssey während einer Nintendo Direct im Januar 2017 unter einem Kanaldeckel hervor sprang und sich plötzlich in einer Stadt mit anderen menschlichen Figuren befand, die im Gegensatz zu Mario selbst über realistische Körperproportionen verfügten. Stilbrüche wie dieser ziehen sich, wie sich spätestens bei der Veröffentlichung zeigen sollte, durch das gesamte Spiel.
Müsste ich Super Mario Odyssey mit nur einem Wort beschreiben, wäre es Abwechslung. Genau das trifft eben auch auf die Spielwelten zu. Man beachte den Plural, schließlich reist Mario mit seinem neuen Begleiter Cappy (der gleich noch seine Zeit im Rampenlicht bekommt) quer durch die Welt und besucht Orte, die sich nicht nur in Bezug auf die Spielumgebung abwechslungsreich präsentieren, sondern auch in den gewählten Grafikstilen. Eine Welt mit Koch-Thema ist beispielsweise im minimalistischen Low-Poly-Stil gehalten, den Spieler:innen sonst eher aus Indie-Games kennen. Dieser Stil steht in krassem Kontrast zu Mario-typisch verspielten, bunten Stilen und sogar realistischeren Ansätzen, in denen Teile der Umgebung oder Figuren realitätsnaher gehalten sind.

Cappy sei Dank
Das, was Super Mario Odyssey von anderen Spielen der Reihe abhebt, ist das Feature, nicht nur Mario spielen zu können, sondern so ziemlich alles und jede:n. Das liegt an Marios neuem Helfer, einer Art Geist aus dem Hutland, in dem sich Mario am Anfang des Spiels wiederfindet. Cappy fährt in Marios bekannte, rote Mütze ein und erweckt sie damit zum Leben. Wirft Mario sie auf einen Gegner, fährt er selbst in diesen ein und kontrolliert dessen Bewegungen. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, ergibt das alles wenig Sinn – aber hey, es ist die Basis für eine der besten Spielmechaniken der traditionsreichen Reihe.
Goombas, Koopas, Kugelwillis und Co. sind also nicht mehr länger nur Hindernisse, die mit gekonnten Sprüngen ausgeschaltet werden müssen, sondern eröffnen neue Möglichkeiten für Mario (und mich als Spieler): Mit Kugelwillis lege ich fliegend weite Strecken zurück und bringe bröckelige Steinstrukturen zum Einsturz; die kleinen Goombas stapele ich zu Türmen übereinander, um Orte zu erreichen, die mir trotz Marios beachtlicher Sprungkraft bisher verwehrt geblieben sind.
Mithilfe von Cappy bewege ich mich durch die vielfältigen digitalen Welten wie durch meinen Alltag als Kind. Alles ist potentiell neu, überall gibt es etwas zu entdecken oder zu lernen – ich weiß nie, worauf ich mich einstellen soll. Kontrolle ist ein Fremdwort, die Welt ist ein Spielplatz. Von einem Spiel noch wirklich überrascht zu werden – und das immer wieder, bis der Abspann läuft – ist für mich eine Seltenheit. Dafür habe ich bis heute zu viele Spiele aus zu vielen Genres gespielt. Hat mich früher so ziemlich alles aus den Socken gehauen, mache ich jetzt häufig die Erfahrung, nach kurzer Zeit die Lust an einem Titel zu verlieren, weil ich nach einer Stunde Spielzeit genau weiß, wie die nächsten X Stunden aussehen werden.
Wenn ich das stark herunterbreche, trifft das natürlich auch auf Super Mario Odyssey zu: Schnell wird klar, dass ich in jeder Welt eine bestimmte Anzahl an Monden sammeln muss, um mit meinem Luftschiff, der Odyssey, in die nächste Welt reisen zu können. Was sich hier jedoch anders anfühlt, ist, wie ich mein Ziel erreiche. Denn jede Welt bietet unterschiedliche Gegner, über die ich die Kontrolle erlangen kann, wenn ich sie mit einem gezielten Wurf von Cappy treffe. Dadurch werden bis ins letzte Level neue Spiel- beziehungsweise Bewegungsmechaniken eingeführt, die es immer wieder geschafft haben, mich zu überraschen.

Dazu kommt, dass ich nicht nur Gegner, sondern auch andere Dinge kontrollieren kann, die ich auf meiner digitalen Weltreise finde. In der eiskalten Wüste, der zweiten größeren Welt, dich ich bereise, werfe ich Cappy zum Beispiel auf einen Kaktus, in dem Glauben, ihn dadurch zu zerstören und sammelbare Münzen freizulegen. Wider meiner Erwartung setzt sich Cappy auf den Kaktus, wodurch ich mit ihm durch die Wüste sausen kann. Sobald ich ihn von seinem Ursprungsplatz wegbewege, kommen tatsächlich auch ein paar Münzen zum Vorschein – manchmal bricht Super Mario Odyssey mit meinen Erwartungen, manchmal spielt es mit ihnen.
Zum Kaktus gesellen sich auch Raketen, mit denen ich schwebende Inseln erreiche, Kanaldeckel, durch die ich versteckte Areale freischalte und sogar Felsen, die ... naja, einfach Felsen sind. Habe ich als Kind Spongebob im Fernsehen zugesehen, wie er Felsen ritt, übernehme ich in Super Mario Odyssey selbst die Kontrolle über sie.

Alles im Spiel ist eine potentielle Möglichkeit für neue Spielmechaniken – entsprechend schleudere ich Cappy in jede Richtung und freue mich, wenn ich wieder etwas Neues entdecke. Genau das ist es, was mich beim Spielen in meine Kindheit zurückversetzt hat: In Super Mario Odyssey entdecke ich eine Welt, die ich nie ganz greifen kann, die mich immer wieder überrascht und in der es (gefühlt) unendlich viele Dinge zu entdecken gibt. Und dieses Entdecken ist unbeschwert. Klar, Gegner können mir schaden, aber die Bestrafung, wenn meine Lebensenergie auf null sinkt, ist minimal. Ich trete ein paar Münzen ab und stürze mich wieder in die Welt. Im Minutentakt werde ich mit dem Finden von Monden belohnt, die mich immer weiter durch die Welt reisen lassen. Vor lauter Spiel bleibt keine Zeit für ernste Gedanken, für Sorgen, für Zweifel. Und klar, keine Kindheit ist komplett frei von diesen Dingen. Aber wenn wir Glück haben, erinnern wir uns Jahrzehnte später nur noch an das Gute aus dieser frühen Phase des Lebens. Mir helfen dabei Games ungemein – wie ist es bei euch?
Super Mario Odyssey ist die spielgewordene Leichtigkeit, ein Urlaub fürs Gehirn, an dem so ziemlich jede:r Erwachsene und jedes Kind Freude und Faszination finden kann – und über wie viele Spiele kann man das heute schon sagen?!
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