Michael Pitz
Stimmungsspiel: Hollow Knight
Hollow Knight ist ein harter Brocken – nicht nur in Bezug auf den hohen Schwierigkeitsgrad des Spiels, sondern auch wegen der bedrückenden Einsamkeit, mit der ich in der dystopischen Spielwelt konfrontiert werde. Doch in der Kombination aus beiden schlummert die Genialität von Hollow Knight, die ich erst nach mehreren Anläufen erkannt habe.

Ich schlage auf dem Boden auf und sehe mich um: Eine karge, felsige Umgebung, die nicht zum Verweilen einlädt. Also raffe ich mich auf und gehe weiter. Lange muss ich die rauen Felsen nicht ertragen. Mein Weg führt mich direkt in ein Dorf, das verlassen scheint. Nur der Dorfälteste ist geblieben und begrüßt mich, wie er viele vor mir begrüßt hat, die ihrem Traum gefolgt sind. Was dieser Traum ist, vermag ich selbst nicht auszusprechen. Es ist ein vages Gefühl – eine Kraft, die mich anzieht, durch den Brunnen am östlichen Rand des Dorfes hinabzusteigen in die Tiefe. Ich betrete ein Königreich, das nur noch wenig seines einst von jedermann gepriesenen Glanzes ausstrahlt: Heilandsnest.
Am Fuß des Brunnens erwartet mich die Vergessene Wegkreuzung, in der ich auf Pfade stoße, die mich zu den verschiedenen Ecken des Königreiches bringen. Doch die meisten dieser Pfade sind versperrt – oft durch meine mangelnden Fähigkeiten. Hier ist ein Abgrund zu breit, dort eine Felswand zu hoch, um sie überwinden zu können. Also gehe ich in die einzige Richtung, die mir offen steht, weiter in die Tiefe.
Ich bin nicht das einzige Lebewesen hier. Ich treffe auf Fliegen, auf Maden und auch auf andere Käfer wie mich. Einige von ihnen zeigen Anzeichen von Intelligenz, und doch ist mir kein einziger wohlgesonnen. Wie einen Eindringling behandeln sie mich, der gekommen ist, ihnen ihr schönes Königreich zu nehmen. Schön. Ich verwende dieses Wort, obwohl es nur noch eine Erinnerung aus längst vergangener Zeit ist. Licht ist Mangelware hier unten und die Wege des Reiches sind verwirrend, gefährlich, bedrückend. Immer wieder gerate ich in Sackgassen; immer wieder muss ich mit meiner Waffe, einem stumpfen Nagel, feindliche Insekten abwehren.
War es ein Fehler, hierher zu kommen? Noch glaube ich, den Weg zurück an die Oberfläche finden zu können. Ich könnte zurückkehren nach … wohin eigentlich? Habe ich ein Zuhause, einen Ort, an den es sich zurückzukehren lohnt? Ich zwinge mich, noch ein paar Schritte zu gehen, um nur noch ein Stückchen mehr von Heilandsnest zu erkunden – um meinem Traum ein paar Atemzüge näher zu kommen. In der Ferne höre ich ein leises Summen, das im Ansatz wie ein Lied klingt. Mein Verstand rät mir, Geräuschen fernzubleiben, die von anderen Lebewesen stammen. Zu viele meiner eigenen Art haben sich mir bislang schon in den Weg gestellt, entschlossen, meine Erkundungstour für immer zu beenden. Und doch – das Summen klingt freundlich, fast fröhlich. Meinen Nagel fest umschlossen bewege ich mich auf das Summen zu und treffe schon bald auf Cornifer, einen Rüsselkäfer, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Heilandsnest zu kartografieren.

Für eine Handvoll Geo bietet er mir an, eine Karte der Vergessenen Wegkreuzung zu erstehen. Ich überreiche das Geo, das ich von denen genommen habe, die es nicht mehr benötigen, und mache mich voll neuer Zuversicht auf, noch tiefer ins Königreich vorzudringen. Cornifer entlässt mich mit den Worten, sollte ich ihn einmal verpassen, könnte ich seine Karten auch bei seiner Frau im Dorf an der Oberfläche erstehen. Aha, denke ich mir, so ist der Alte doch nicht der letzte verbleibende Bewohner des Dorfes.
Endlich kann ich mich orientieren, wenn auch nur grob. Es zieht mich ins Herzen von Heilandsnest, in die alte Hauptstadt des Königreiches. Die Stadt der Tränen empfängt mich mit ihren turmhohen Bauten, die scheinbar als Einziges im Königreich nichts von ihrem alten Glanz verloren haben. Eine Stadt erbaut unter einem See, dessen Wasser zu jeder Zeit wie Regen von der Decke tropft; ich erkenne, dass es keinen besseren Namen für diesen Ort geben könnte, als Stadt der Tränen. Doch wenn ich mich umsehe, von leeren Straßen und Gebäude in jeder Richtung umgeben, dämmert es mir, dass sich die Stadt ihren Namen in doppeltem Sinn verdient hat. Hier ist etwas Schreckliches geschehen. Je tiefer ich in diesen Ort vordringe, desto mehr bestätigt sich dieses Gefühl. Die Straßen sind plötzlich nicht mehr leer: Ein paar Bewohner schleichen mit gesenkten Fühlern ziellos umher. In ihren Augen finde ich keine Anzeichen mehr von der Intelligenz, der Empathie und dem Stolz, den die Einwohner dieses Ortes einst ausgemacht haben. Stattdessen straffen sie ihre Körper, wenn ich ihnen zu nahe kommen, und attackieren mich in blinder Wut.
Ich bin einsam.
Ich möchte aufgeben.
Ich will diesen Ort verlassen.
Aber meine Reise ist noch nicht zu Ende. Ich spüre es in dem Wasser, das um mich herum von der Decke tropft, während ich mich auf einer Bank ausruhe, auf der seit Langem niemand mehr gesessen hat. Ich spüre es in dem entfernten Dröhnen der Orgel, die aus dem Seelenheiligtum, das über der Stadt thront, bis zu mir herunter hörbar ist. Ich spüre es in den Stimmen, die mir zwei Worte immer und immer wieder ins Ohr flüstern. Hollow Knight. Was haben sie zu bedeuten? Wer ist diese Gestalt – und welche Rolle spiele ich in dieser untergegangenen Welt?

Anlauf #3
So oder so ähnlich würde der Protagonist des Spiels, der Ritter (im Original: The Knight), wohl das erste Viertel seiner beschwerlichen Reise durch das vergessene Königreich beschreiben, wenn er sich die Zeit nähme, seine Erfahrungen niederzuschreiben. Vielleicht setzt er sich auf eine der Bänke, die im Spiel als Speicherpunkte fungieren, und hält die vielen Eindrücke fest, um später davon zu erzählen. Ob man ihm Glauben schenken wird, steht auf einem anderen Blatt.
Hollow Knight hat es mir nicht leicht gemacht, es so sehr zu mögen, wie ich es mittlerweile tue. Mein Interesse haben in erster Linie die handgezeichneten Umgebungen und Figuren (samt Animationen!) geweckt, die in den ersten Trailern für internationale Aufmerksamkeit gesorgt haben. Finanziert wurde das Spiel des nur dreiköpfigen Studios Team Cherry aus dem Süden Australiens mithilfe von Kickstarter. Bis heute ist es ein Paradebeispiel dafür, was für beeindruckende Werke entstehen können, selbst ohne die (finanzielle) Rückendeckung eines Publishers.

Direkt am ersten Tag nach Erscheinen des Spiels habe ich es auf der Switch heruntergeladen, angefangen und nach wenigen Stunden abgebrochen. Der Mix aus permanentem Sterben aufgrund des hohen Schwierigkeitsgrades und dem Umstand, dass Speicherpunkte weit auseinander liegen, haben mich meiner Frustration klein beigeben lassen. Dazu kam, dass mir das Spiel das nächste Ziel nie vorgegeben hat und ich mich andauernd in den verwinkelten Gängen der zweidimensionalen Welt verlaufen habe. Das war es also mit meinem ersten Anlauf, ganz aufgeben wollte ich aber noch nicht. Ich habe direkt einen zweiten gestartet. Alles auf Anfang, diesmal konzentrierter vorgehen, habe ich mir gesagt. Das hat auch kurz funktioniert, aber dann kamen andere Spiele und Bücher, die meine Aufmerksamkeit gestohlen haben.
Wirklich losgelassen hat mich Hollow Knight aber nie. Das mag auch daran gelegen haben, dass ich online konstant über das Spiel gestolpert bin – meistens in Form von Lobeshymnen, die die Genialität des Titels feierten. Irgendwann habe ich mich dann zu Anlauf #3 aufgerafft … und was soll ich sagen?! Es hat Klick gemacht. Und wie!
Schritt für Schritt

Bei meinen ersten Anläufen habe ich die Bewegungsmuster und die Grundlagen des Kampfes gelernt. Erstaunlicherweise haben sich diese so stark in mein Muskelgedächtnis eingebrannt, dass ich sie Monate später beim dritten Anlauf wieder abrufen konnte. Dadurch haben sich die ersten Spielstunden einfacher angefühlt: Ich bin nicht mehr nur panisch von Speicherpunkt zu Speicherpunkt gerannt, sondern habe selbstbewusst jede Ecke des ersten Gebiets erkundet. Die ersten Bosse haben mich dann auch vor keine allzu großen Probleme gestellt. Ich wusste zwar, dass meine Überlegenheit dem Spiel gegenüber nicht lange anhalten wird, aber ich habe die wohl wichtigste Lektion gelernt, die für mich den Ausschlag gegeben hat, jegliche Frustration zu überwinden: Hollow Knight ist nicht so schwierig, wie es am Anfang erscheint, es kann sich sogar einfach anfühlen. Scheitern ist Teil des Konzepts: Mit jedem Mal, dem ich mich einem Boss entgegenstelle, lerne ich seine Bewegungsmuster besser kennen. Erscheint ein Sieg anfangs unmöglich, frage ich mich heute bei manchen Gegner, warum sie mir jemals Probleme bereitet haben.
Was mir in Anlauf #3 erstmals gelungen ist, ist mich wirklich auf die Spielwelt zu fokussieren: auf all die aufwändig gemalten Hintergründe, das charmante und teils lustige Gebrabbel der Figuren, und schließlich auf mein Ziel, dieses Spiel zu bezwingen. Dass mir zu keinem Zeitpunkt eine Richtung vorgegeben wird, in die ich als nächstes gehen sollte, habe ich nicht mehr als störend empfunden. Stattdessen habe ich diese Entscheidung im Spieldesign als Vertrauen in mich als Spieler gelesen. Du findest deinen Weg schon, sagt Team Cherry. Was ich lernen musste, war, ebenfalls zu vertrauen – darin, dass die Spielwelt so gestaltet ist, dass ich unbewusst an die Orte gelange, die ich erreichen muss. Und darin, dass die Herausforderungen mit ausreichend Übung auch ohne übermenschliche Reflexe schaffbar sind.
Im Laufe eines Monats habe ich Hollow Knight dann tatsächlich bezwungen. Rund 25 Stunden lang habe ich mich dafür durch alle Ecken von Heilandsnest gekämpft und dabei Momente erlebt, die mir Jahre später noch im Gedächtnis sind. Vor allem aber erinnere mich, wenn ich an Hollow Knight denke, an die Schwere, die Melancholie, aber auch die Ruhe, die dieses Spiel mit seiner unverbrauchten Interpretation einer untergegangenen Welt mit sich bringt. Hollow Knight ist definitiv kein Stimmungsaufheller, im Gegensatz zu Spielen wie Super Mario Odyssey (2017), das mit kindlicher Freude und Unbeschwertheit um sich wirft. Es ist, wie zu Beginn des Beitrags erwähnt, vielmehr ein harter Brocken, der es aber versteht, Spielende an den richtigen Stellen durchschnaufen zu lassen und mit stetigen Erfolgen zu motivieren, weiterzuspielen. Schritt für Schritt laufe, springe und kämpfe ich mich durch Heilandsnest. Hollow Knight lässt mich das in meinem eigenen Tempo tun; das ist es, was ich mit der angesprochenen »Ruhe« meine. Sobald ich wirklich ins Spiel gefunden hatte, wollte ich nicht mehr so schnell wie möglich einen Weg aus Heilandsnest heraus finden, sondern jeden Winkel, jede freundliche Figur, jede Fähigkeit, jede Verbesserung für meinen Nagel entdecken und jeden Boss besiegen. Letzteres habe ich bis heute zwar noch nicht geschafft, aber es kribbelt mich in diesem Moment in den Fingern, mich noch einmal daran zu versuchen.

Dieser Soundtrack
Einen letzten wichtigen Punkt habe ich bislang sträflich vernachlässigt: die Musik des Spiels. Es kommt nicht häufig vor, dass ich mich bewusst hinsetze und mir Lieder eines Spielesoundtracks anhöre. Komponist und Sound Designer Christopher Larkin bringt mich mit der Musik aus Hollow Knight dazu, genau das zu tun. Er hat es sowohl im Basisspiel als auch den Erweiterungen von Hollow Knight auf beeindruckende Weise geschafft, die Stimmung eines jeden Gebiets auf seine Essenz herunterzubrechen und in Musik zu gießen.
Diese Stücke haben sich so tief in meine Gehörgänge eingebrannt, dass sie automatisch abgespielt werden, wenn ich an die einzelnen Orte der Spielwelt zurückdenke. Es ist über zwei Jahre her, dass ich Hollow Knight das letzte Mal gespielt habe, und trotzdem habe ich ein ziemlich genaues Abbild der Weltkarte vor Augen. Ich erinnere mich an die Wege durch die oft verwinkelten Gebiete, an ihre Gegner, an die Geheimnisse, die ich dort entdeckt und die Lieder, die mich dort umgeben haben.
Allem voran sehe ich das Seelenheiligtum vor mir: Nicht nur war es die erste große Herausforderung im Spiel, die für das Ende meines ersten Anlaufs verantwortlich war, es hat mir auch eine echte Gänsehaut verschafft (und das passiert mir nahezu nie beim Spielen). Einen großen Teil zu dieser Erfahrung beigetragen hat die Hintergrundmusik, die an dieser Stelle des Spiels am deutlichsten in den Vordergrund tritt. Arpeggios, auf Orgel gespielt, die sich teils überlagern; lange, vor Erhabenheit und Verzweiflung triefende Töne; und dann der Einsatz des Chors, bei dem das Tempo anzieht. Hat man Glück, kollidiert der Höhepunkt des Liedes mit dem unabwendbaren Moment, in dem man von Gegner überwältigt wird, die sich um die eigene Spielfigur herum wie Geister materialisieren.
Den gesamte Soundtrack des Spiels findet ihr auf den gängigen Musikstreaming-Plattformen. Meine Anspieltipps sind das eben beschriebene Soul Sanctum und das bezüglich Stimmung gegenteilige Fungal Wastes. Letzteres gibt mir ähnliche Vibes wie Concerning Hobbits aus dem Soundtrack von Der Herr der Ringe: Die Gefährten (2001). Hier schwingt eine gewisse Neugier und Leichtigkeit mit, die sowohl in Hollow Knight als auch der Filmtrilogie Der Herr der Ringe eine Seltenheit und damit gern gesehene Abwechslung ist.
Frieden in Heilandsnest
Man kann Hollow Knight als das sehen, was es auf dem Papier ist: Ein Spiel des Genres Metroidvania, das zu ähnlichen Teilen auf Plattformpassagen à la Super Mario und auf Kämpfe setzt, die in der Art ihrer Herausforderung an Spiele wie Dark Souls (2011) erinnern. Man kann sich an den Bossen die Zähne ausbeißen und die Fühler abknicken, und seinen Spaß daran finden, ein schwieriges Spiel in die Knie zu zwingen.
Für mich ist Hollow Knight aber eines der Spiele, aus denen ich mehr mitnehme, als die Erinnerung an die Freude am Spielen und den Erfolg, irgendwann den Abspann gesehen zu haben. Hollow Knight lädt mich ein, mich daran zu erinnern, dass ich mir selbst vertrauen kann – dass sich Felsen auf meinem Weg überwinden lassen, wie groß sie auch erscheinen mögen. Es lädt mich ein, in kleinen Schritten zu denken, statt mich vom Großen einschüchtern zu lassen. Und es lädt mich ein, jederzeit zurückzukehren in diese furchtbare und furchtbar schöne Welt: in ein Käferkönigreich, das in menschlichen Maßstäben gedacht winzig erscheint, für den kleinen Ritter jedoch die größte Herausforderung seines Lebens darstellt. Ganz alleine wandert er durch eine ihm feindlich gesinnte Welt, und doch findet er selbst hier, tief unter der Oberfläche, Unterstützung durch jene, die seinen Weg kreuzen.