Michael Pitz
Outer Wilds: Interaktives Erzählen in Perfektion
Aktualisiert: 1. Feb.
Immer mehr Videospiele loten die Grenzen ihres Mediums aus, um Geschichten auf einzigartige Weise erlebbar zu machen. Eines der besten Beispiele für dieses interaktive Erzählen ist Outer Wilds. Schnallt euch an, wir heben ab.

Ein ganzes Sonnensystem wartet darauf, von uns erkundet zu werden. Wir stecken in den Schuhen des jüngsten Raumfahrers eines kleinen Dorfes irgendwo im Universum. Ein Universum, dessen Sonnen zunehmend instabil werden – ein Universum, das langsam aber stetig stirbt. Eine konkretes Ziel haben wir nicht: Was uns antreibt, mit unserem Raumschiff die diversen Planeten des Sonnensystems zu erkunden, ist der Untergang einer Spezies, den Nomai, vor hunderttausenden von Jahren. Ihre Spuren finden sich überall – und endlich haben wir ein Gerät, mit dem sich von den Nomai hinterlassene Aufzeichnungen entschlüsseln lassen.
Hinweis zu Spoilern: Es gibt Spiele, bei denen man im Idealfall so wenig Wissen wie möglich mitbringt. Outer Wilds ist eins davon. Ich werde in diesem Beitrag sparsam mit Details zur Geschichte umgehen, ein paar Beispiele muss ich aber ausführen, um die Besonderheiten des Erzählens hervorzuheben. Wenn ihr also bereits jetzt Lust habt, Outer Wilds selbst zu erleben, dann hört hier auf zu lesen (und schaut später noch einmal hier vorbei).
Kein Marker, kein Ziel
Das einzige Ziel, das Outer Wilds explizit vorgibt, ist das Besorgen der Startcodes für unser eigenes Raumschiff. Das führt uns einmal quer durch unser Heimatdorf auf dem Planeten Holzkamin. Hier gibt es Tutorials für die Steuerung in Schwerelosigkeit sowie für den Flug im Raumschiff. Beides bedarf einer gewissen Gewöhnung, die auch uns anfangs abgeschreckt hat. Die Steuerung wirkt überladen, ist letztlich aber erstaunlich einfach zu meistern. Ist diese Einstiegshürde genommen, ist alles, was es zum Durchspielen braucht, Wissen. Und genau hier liegt die Besonderheit von Outer Wilds.
Bevor es nun richtig ins Detail geht, ein kurzer Hinweis: Ich spreche die ganze Zeit von »uns«, weil ein Freund und ich gemeinsam die Rätsel des Spiels entschlüsselt haben, auch wenn es keinen Zweispieler-Modus gibt. Wir waren uns am Ende trotzdem einig, dass sich Outer Wilds hervorragend zusammen auf der Couch spielt. So rätselt es sich einfach am besten, denn gehen dem Einen die Ideen aus, hat der Andere oft schon die Lösung parat. Aber zurück zum Thema …

Outer Wilds entlässt uns nach dem kurzen Tutorial in eine offene Welt, die … nunja … ausnahmsweise wirklich offen ist. Im Sinne von: Hier hast du ein Universum mit Planeten, einem Komet, Raumstationen und auch sonst allem, was das SciFi-Herz begehrt. Und jetzt los, husch, geh erkunden. Das kann im ersten Moment überfordern. Die Möglichkeiten scheinen unendlich und in uns brodeln Fragen: Wie sollen wir hier etwas finden, das uns wirklich weiterbringt? Und wohin bringt es uns? Wonach sollen wir Ausschau halten?
Die Antwort ist simpel und lässt auf die Genialität des Spieldesigns schließen: Wo wir anfangen, ist völlig egal. Für welche Richtung wir uns auch entscheiden, nach exakt 22 Minuten stirbt die Sonne und reißt mit einer Supernova das gesamte Sonnensystem mit in den Tod – inklusive uns. Nach dem Tod erwachen wir am immer gleichen Lagerfeuer in unserem Heimatdorf.
Wissen ist Macht
Der Rahmen, in dem sich das Gameplay von Outer Wilds bewegt, ist klein. Weder kämpfen wir gegen Monster, noch verbessern wir unser Schiff oder unsere Spielfigur. Auch sammeln wir keine Dinge, um daraus etwas Neues zu schaffen. Was wir hingegen sammeln, sind Informationen. Wissen. Nach und nach erfahren wir, warum das Universum in einer 22-minütigen Zeitschleife gefangen ist, was die Nomai damit zu tun haben, wo sie abgeblieben sind und wie wir die Zeitschleife brechen können.
Die Informationen, die wir überall in der Welt finden, sind Schnipsel, die sich nur sehr langsam zu einem großen Ganzen zusammensetzen. Um den Überblick zu behalten, was wir wo erfahren haben und welche Folgerungen daraus resultieren – unter anderem über Orte, die wir als nächstes ansteuern sollten –, steht uns ein Logbuch zur Verfügung. Das befindet sich praktischerweise im Raumschiff, in dem wir ohnehin ständig unterwegs sind.
Und ich weiß, was ihr jetzt denkt: Wer hat Lust, sich dauernd durch ein Logbuch zu quälen? Wir zum Beispiel. Zum einen, weil es absolut notwendig ist, um den Überblick zu behalten. Zum anderen, weil es erstaunlich nicht-nervig gestaltet ist. Auf einen Blick ist klar, wo wir was entdeckt haben und vor allem, ob wir an einem bereisten Ort wirklich alle Informationen gesammelt haben.
Als wir genug Wissen angesammelt hatten, konnten wir das Spiel innerhalb eines Loops beenden. Damit erinnert Outer Wilds an The Legend of Zelda: Breath of the Wild (2017). Dort bekommt der Held direkt nach dem Tutorial die Aufgabe, den Endgegner zu besiegen – samt Hinweis, wo sich dieser aufhält. Als Spieler kann man diese Herausforderung direkt annehmen, auch wenn die Wahrscheinlichkeit für einen Sieg gering ist. Dennoch, geübte Spieler schaffen es, Breath of the Wild in unter einer Stunde zu beenden. Zum Vergleich: Ich habe 40 Stunden gebraucht. Outer Wilds hebt sich wiederum vom jüngstem Zelda-Teil ab, indem es uns erst gar nicht verrät, was das Ziel des Spiels ist. Denn das ist, wie alles in Outer Wilds, etwas, das entdeckt werden möchte.

Halten wir fest: Outer Wilds ist dahingehend besonders, dass das Gameplay hauptsächlich darauf basiert, Wissen anzuhäufen. Die Reihenfolge, in der wir Wissen generieren, ist egal. Alle Wege führen nach Rom. Damit bleibt nur noch zu klären, wie es das Entwicklerstudio Mobius Digital geschafft hat, dass wir an alle relevanten Infos kommen, ohne uns im frei erkundbaren Sonnensystem verloren zu fühlen, quasi zu »verlaufen«. Genau hier stoßen wir auf die Genialität im Spieldesign.
Das erste Feature, das uns Orientierung verschafft, haben wir bereits besprochen: das Logbuch. Es stellt eine Art Archiv dar und erinnert uns daran, wo wir bereits waren und was wir gefunden haben. Darüber hinaus zeigt es uns, wie die Dinge, die wir entdeckt haben, miteinander verknüpft sind. Kommen wir also zum nächsten entscheidenden Faktor: Den Orten, an denen Informationen verborgen sind.
Size does matter!
Die Proportionen des Sonnensystems sind fast schon komisch klein. Ein Flug von einem zum anderen Planeten dauert selten länger als eine Minute. Das ist aus mehreren Gründen wichtig:
Erstens: Aufgrund der Zeitschleifen-Mechanik starten wir unsere Reise spätestens alle 22 Minuten von der gleichen Position aus neu. Die geringe Entfernung zwischen den Planeten verhindert Frust über gleiche Strecken, die mehrfach hintereinander zurückgelegt werden müssen – denn einen ganzen Planeten in einer Schleife zu erkunden, ist unmöglich.
Und zweitens: Orte, an denen es etwas zu entdecken gibt – sogenannte points of interest (POI) – sind schon beim Anflug eindeutig zu erkennen. Sie heben sich klar von der restlichen Oberfläche eines Planeten ab. Früh im Spiel haben wir gelernt, dass sich nur an jenen markanten Orten Informationen finden lassen. Haben wir alles gefunden, was ein POI zu bieten hat, sehen wir das in unserem Logbuch und wissen so, wann wir uns neuen Orten zuwenden können.

Zwar beträgt der Durchmesser des Sonnensystems im Spiel nur einige Kilometer, die tatsächlich erkundbare Fläche ist hingegen verhältnismäßig klein. Relevante Informationen finden sich oft an mehr als einer Stelle. Das und die Tatsache, dass die Entwickler Informationen nur an POIs versteckt haben, sorgt dafür, dass wir als Spieler konstant auf neues Wissen stoßen. Die clevere Verteilung von Wissen ist ein entscheidender Motivator, der uns antreibt, weiterzuspielen, um das Geheimnis um das Verschwinden der Nomai zu lüften.
Licht und Ton
Wir arbeiten uns weiter zu immer feineren Details vor. Wir haben eine weitere Mechanik gemeistert und dadurch einen neuen point of interest gefunden. Manchmal ist uns sofort klar, wie wir am besten durch diesen navigieren, um zu finden, wonach wir suchen. Selten sind wir von der Anzahl an Möglichkeiten, wo wir zuerst nach Informationen suchen können, überfordert. Hier haben die Entwickler Abhilfe geschaffen, wie wir sie in vielen Spielen finden: visuelle Hinweise. Finden wir in Horizon Zero Dawn (2017) Stellen, an denen wir klettern können, indem wir nach gelben markierten Vorsprüngen Ausschau halten, finden wir Informationen in Outer Wilds, indem wir dem Licht wie eine Motte folgen.
Licht ist in der unendlichen Dunkelheit des Universums die naheliegende Wahl. Die Orte, die wir erkunden, sind überwiegend Ruinen. Bewohnt wurden sie einst von den Nomai, doch außer ihren Aufzeichnungen, ist nur wenig geblieben. Genau diese Aufzeichnungen sind es, auf die wir es abgesehen haben.

Einen größeren Fokus legt Outer Wilds aber auf den Ton, genauer gesagt die Musik. Die kommt schon dann zum Tragen, wenn wir überhaupt keine Idee haben, wo wir unsere Suche beginnen (oder fortsetzen) sollen. Denn neben einer Kamerasonde ist ein sogenanntes Signaloskop das einzige Werkzeug, das uns beim Erkunden zur Verfügung steht. Das Signaloskop können wir auf verschiedene Frequenzen einstellen und so Geräusche lokalisieren. Dazu zählen zum Beispiel die Musikinstrumente der anderen Raumfahrer unseres Dorfes. Jeder unserer Kollegen spielt ein anderes Instrument und befindet sich auf einem anderen Planeten. Im Gespräch verraten sie uns Basisinformationen zur Spielwelt und geben Hinweise, wo unsere Suche Früchte tragen könnte.
Schönheit und Ehrfurcht
Outer Wilds entlässt uns in ein frei erkundbares Sonnensystem, auf dessen zahlreichen Planeten wir Wissen anhäufen, das uns irgendwann ermöglichen wird, das Spiel zu beenden. Dieses Wissen ist von den Entwicklern so geschickt verteilt, dass wir zwangsläufig darüber stolpern. Das ist – grob gefasst – der Kern des Spiels, das sogenannte Core Gameplay.
Das Logbuch hilft uns dabei, den Überblick über das gesammelte Wissen zu behalten. Trotzdem kommt es immer wieder vor, dass wir eine Information nach der Anderen sammeln, die zwar alle interessant sind, sich aber weigern, in unseren Köpfen ein klares Bild oder gar Ziel zu formen. Das könnte ein Motivationskiller sein, den Outer Wilds auszugleichen weiß – mit den Ideen, die hinter den Designs und Spielmechaniken der Planeten stecken.
Diese Ideen sind so einzigartig, dass wir die ganze Welt in der Sekunde erkunden möchten, in der wir einen Fuß in sie setzen. Dadurch ist es nicht schlimm, wenn wir zwischendurch immer mehr Wissen ansammeln, das scheinbar lose im Raum schwebt. Wenn wir keine Verbindungen sehen und dem Ende (gefühlt) nicht näherkommen.

Der erste Planet, den wir zu Spielbeginn ansteuern, ist komplett von Wasser bedeckt – quasi ein Meer, das die gesamte Planetenoberfläche bedeckt. Auf den Wassermassen toben Wirbelstürme, die bis in den Himmel ragen und ständig in Bewegung sind. Treffen sie auf eine der wenigen Landmassen des Planeten, katapultieren sie diese für einen kurzen Moment in die Schwerelosigkeit des Alls. Sofort fragen wir uns, was wohl passiert, wenn wir in einen der Wirbelstürme hineinfliegen.
Ein anderer Planet besteht aus einer instabilen Oberfläche, die nach und nach bröckelt. Die abgebrochenen Teile werden von einem Schwarzen Loch verschlungen, das den Planetenkern darstellt. Beim Erkunden des Planeten mit dem treffenden Namen Bröckeliger Krater sind wir intuitiv vorsichtig, nicht selbst in das Schwarze Loch zu stürzen. Gleichzeitig sind wir neugierig: Was wird wohl passieren, wenn wir doch abrutschen?

In vielen Momenten wirkt die Spielwelt mit ihren kreativen Ideen faszinierend und einschüchternd zugleich. Stück für Stück tasten wir uns voran – sind wir unsicher, dann zunächst mit einer Kamerasonde, die wir von uns schießen können. Die Ideen, auf denen die einzelnen Planeten aufgebaut sind, hängen selten mit dem großen Ganzen zusammen, das wir aufdecken möchten. Vielmehr bilden sie den Rahmen für die Erkundung. Sie etablieren ständig neue Mechaniken, die wir verstehen lernen müssen, um an weitere Informationen zu gelangen. Diese Mechaniken zu meistern, treibt uns fast so sehr an wie das Zusammensetzen des Puzzles aus den Informationen, die wir in den knapp 20 Stunden, die wir in Outer Wilds verbracht haben, in unserem Logbuch dokumentiert haben.
Wissen schafft Wissen schafft Wissen
Die Entwickler beschreiben Outer Wild selbst als »das Spiel, das du nicht entwickeln solltest«. Denn in hier ist die gesamte Spielwelt mit all ihren Planeten in konstanter Bewegung. Das verlangt bei mangelnder Optimierung nicht nur Computern einiges ab, es erschwert bei der Entwicklung auch das Setzen von Licht. Damit Licht in digitalen Welten den gewünschten Effekt erzielt, werden jene Welten möglichst statisch gebaut. Doch Outer Wilds bricht mit dieser Konvention und schafft eine Spielerfahrung, in der wir und alles um uns herum in einem ständigen Fluss die Sonne umkreisen.
In dieser ständigen Bewegung finden wir Fragmente einer Geschichte, die wir so nur in einem Videospiel erleben können. Sie ist das Gegenteil von linear. Sie wird uns nicht auf einem Silbertablett gereicht, wie es bei Filmen, Serien und Büchern der Fall ist. Wir müssen sie uns verdienen, indem wir uns immer tiefer in die physikalischen Gesetze eines fiktiven Universums einarbeiten. Wir setzen die Geschichte selbst zusammen, was manchmal mühsam ist, am Ende aber größere Befriedigung verschafft, als es lineares Erzählen könnte. Jedes bisschen Wissen führt zu neuem Wissen – und dieses führt wieder zu neuem Wissen.
Am Ende unserer Reise haben wir Outer Wilds besiegt. Und – an dieser Stelle kann ich nur für mich sprechen – ich habe so Vieles mitgenommen, das mich über lange Zeit begleiten wird. Allem voran die Frage, wie genau ich das Ende des Spiels interpretiere. Mich beschleicht das Gefühl, dass sich die Antwort mehrfach ändern wird, je länger ich darüber nachdenke.
Was ich außerdem mitnehme, ist neu gewonnene Faszination für das Medium Spiel. Insbesondere Blockbuster-Titel wie The Last of Us (2013) setzen auf Filmelemente, um ihre Geschichten zu erzählen. Immer wieder wird mir als Spieler die Kontrolle genommen. Das ist per se nicht schlimm – The Last of Us habe ich als hervorragende Erfahrung empfunden. Aber es fordert mich mit der Art, wie es seine Geschichte erzählt, nicht heraus, weil es überwiegend auf Gewohntes setzt.
Outer Wilds hingegen traut mir zu, meinen Weg zum Abspann selbst zu finden. Es entlässt mich in ein Universum voll Informationen, die geschickt platziert sind, sodass ich irgendwann zwangsläufig über sie stolpere. Ich hangele mich von einem point of interest zum nächsten, lasse mich von Licht und Ton leiten und bleibe dabei immer wieder fasziniert an Ort und Stelle stehen, um die Schönheit der Spielwelt zu bewundern. Zugegeben, ab und an bin ich auch stehen geblieben, weil ich mich einfach nicht getraut habe, einen weiteren Schritt ins Unbekannte zu machen. Denn auch das weiß Outer Wilds mir als Spieler zu vermitteln: Diese Reise ist kein Spaziergang – aber sie lohnt sich. Und wie sie das tut!
Wenn ihr noch mehr über Outer Wilds und dessen Entstehungsgeschichte erfahren möchtet, empfehle ich euch die Dokumentation The Making of Outer Wilds von Noclip. Achtung: Die Dokumentation enthält etliche Spoiler, auch zum Ende des Spiels.