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  • AutorenbildMichael Pitz

Cyberpunk 2077 – Warum hast du es mir so schwer gemacht?

Aktualisiert: 11. Dez. 2022

Montagabend, 21:39 Uhr. Ich starre auf den Bildschirm, der Abspann läuft – zwei Jahre nachdem ich Cyberpunk 2077 gekauft habe. Warum zur digitalen Hölle hat es so lange gedauert, bis mich das jüngste Werk von CD Projekt Red begeistern konnte?


V vor Night City

Schon im Mai 2012 wurde Cyberpunk 2077 (kurz: Cyberpunk) angekündigt – mit einem Trailer, der heute Kultstatus hat. Dabei hat er mit dem fertigen Spiel erstaunlich wenig zu tun: Die gezeigte Figur spielt letztlich keine Rolle und die Musik versprüht einen anderen Flair als der (hervorragende) Soundtrack jenes Spiels, das viele Jahre später, nach unzähligen Verschiebungen, erscheinen sollte – am 10. Dezember 2020.


Spoiler-Entwarnung: Ich gehe im Beitrag nur auf den Beginn der Geschichte in Cyberpunk 2077 ein. Darüber hinaus gibt es ein paar Einblicke in Nebenmissionen, aber keine Sorge: Die Informationen sind sorgfältig ausgewählt und werden eure Spielerfahrung nicht negativ beeinflussen. Aber jeder ist unterschiedlich sensibel, wenn es um Spoiler geht, daher entscheidet selbst, ob ihr weiterlesen möchtet.


Marketing gone wrong

Wer den Gaming-Diskurs rund um das Veröffentlichungsdatum verfolgt hat, erinnert sich mit Sicherheit gut daran, wie groß der Aufschrei aus allen Ecken der Gaming-Welt war. Die kollektive Enttäuschung war vielschichtig: Cyberpunk 2077 war in einem technisch desaströsen Zustand, dieser wurde zu allem Übel in der Marketingkampagne verschleiert, und weitere Werbeversprechen über die Spielerfahrung im Allgemeinen haben sich schlicht als falsch entpuppt.


Zum Thema Technik: Cyberpunk erschien zeitgleich für PC, Playstation 4 und Xbox One. Während manch ein am PC beheimateter Gamer ein mindestens okay laufendes Spiel genießen konnte, klagten andere über unzählige Bugs, Glitches und Performance-Probleme. Leider sprechen wir hier nicht von einem Fehler-Niveau, wie es üblich für Spiele von Betheda ist. Das Studio rund um Tod Howard prägte durch ebenfalls unsauber programmierte Spiele wie The Elder Scroll V: Skyrim (2011) den Satz »It’s not a bug, it’s a feature«, der eher schmunzelnd dahergesagt wird, da besagte Fehler den Spielfluss in der Regel nicht gestört haben. Im Fall von Cyberpunk sprechen wir von Bugs und weiteren technischen Problemen, die für Ruckler, Abstürze und Einschränkungen in der Interaktion mit der Spielwelt, ihren Fahrzeugen, Figuren und Aufgaben sorgen. Von denen verstecken sich auch heute, zwei Jahre nach Veröffentlichung, noch einige in Cyberpunk 2077 – aber immerhin ist das Spiel durch Patches auf ein ähnliches Niveau wie Skyrim gekommen.


Parade in Cyberpunk 2077
Unabhängig aller technischer Probleme sah Cyberpunk schon zum Launch atemberaubend aus.

Wirklich gedrückt hat der Schuh bei den Konsolenversionen. Diese waren – selbst beim Zudrücken beider Augen – einfach unspielbar. Das galt insbesondere für all die Mutigen, die Cyberpunk auf den Basis-Modellen der jeweiligen Konsole installiert haben. Pünktlich zum Release standen zwar Patches für die frisch erschienenen Next-Gen-Konsolen Playstation 5 und Xbox Series X/S bereit, die die neue Hardware-Power zumindest im Ansatz für eine bessere Spielerfahrung nutzten, aber selbst auf den brandneuen Top-Geräten war die Mischung aus Bugs und schlechter Performance für viele ein Spaßkiller. Das Drama rund um die Konsolenversionen erreichte seinen Höhepunkt, als Sony den Verkauf im systemeigenen Onlineshop unterband und enttäuschten Käufern eine Erstattung anbot.


Insbesondere für Fans des Entwicklers CD Projekt Red, der mit The Witcher 3 2015 einen weltweit erfolgreichen Rollenspiel-Hit veröffentlichte, dürfte eine andere Ebene des Scheiterns mehr schmerzen: das Marketing. Hier weiß ich ehrlich gesagt kaum, wo ich anfangen und enden soll. Cyberpunk 2077 wurde uns vor Veröffentlichung als die Revolution im Rollenspiel-Genre verkauft. Das ist per se nichts Neues, nur wirkten viele Elemente des Spiels derart unterentwickelt, dass ich mich als Spieler mehr belogen als sonst gefühlt habe – warum, dazu komme ich gleich noch. Was das Vertrauen einer größeren Masse an Fans gekostet haben dürfte, war jedoch der Umgang mit Testversionen kurz vor der Veröffentlichung. Nicht nur gab es seitens CD Projekt Red die Information, Cyberpunk würde erstaunlich gut auf den betagten Konsolen laufen, man vertraute auch darauf, dass wir Spieler das Entwicklerstudio beim Wort nehmen. Bilder, vor allem bewegte, bekamen wir nämlich keine zu Gesicht. Tatsächlich galt das nicht nur für uns 0815-Gamer, die wir in unseren Wohnzimmern sitzend einer nach dem anderen dem Marketing-Hype erlagen, auch Journalistinnen und Journalisten wurde – wenn überhaupt – die PC-Version für Tests zur Verfügung gestellt. Als wäre das nicht genug, durfte niemand in Videotests selbst mitgeschnittenes Material verwenden, sondern lediglich sogenannte B-Rolls, also vom Entwicklerstudio zur Verfügung gestelltes Bildmaterial, das das Spiel logischerweise nur im bestmöglichen Licht darstellt. Das Resultat war eine klaffende Schlucht zwischen Bewertungen aus dem Spielejournalismus und frühen Stimmen aus der Spiele-Community.


Motorrad in Cyberpunk 2077
Die technischen Probleme sind mittlerweile größtenteils behoben. Gameplay-Patzer wie die schlechte Fahrzeugsteuerung bleiben.

Kein Hype, keine Sorgen

Und wie sah es mit meiner eigenen Erfahrung aus? Wie viele habe ich Cyberpunk zum Release gekauft – glücklicherweise auf PC, auch wenn ich aufgrund mittelprächtiger Hardware Abstriche in Sachen Grafikqualität und Performance eingehen musste. Aber die große Technikkatastrophe blieb mir erspart. Klar, Bugs habe ich an jeder Ecke gefunden, aber nur wenige haben mir den Spielspaß genommen … das hat Cyberpunk ganz unabhängig von seiner technischen Seite geschafft.


Dazu muss ich sagen: Ich war lange anfällig für Hype, aber diese Zeiten scheinen vorbei zu sein. Klar, ich freue mich noch immer, wenn Spiele erscheinen, ab und an fiebere ich dem Erscheinungstag auch mal entgegen. Aber ich habe eben auch sämtliche Flops der letzten 15 Jahre miterlebt oder zumindest am Rande verfolgt, sodass meine Erwartungen in der Regel nicht mehr von Marketing-Geblubber in unrealistische Dimensionen katapultiert werden. Entsprechend war ich selbst kein Teil des Hypes rund um Cyberpunk 2077, aber ich war ziemlich neugierig, welches Spiel nach all den Jahren über meinen Bildschirm flimmern würde.


Dieses Spiel wirkte in den zehn Stunden, bevor ich meinen (ersten) Durchlauf als beendet erklärte, durchschnittlich, unterwältigend, unfertig. Die Gründe hierfür waren vielschichtig. Da ich mehr Zeit darauf verwenden möchte, darüber zu schreiben, warum mich Cyberpunk letztlich mit einer Fülle an (positiven) Emotionen zurückgelassen hat, hier nur eine kurze Zusammenfassung der relevantesten Punkte:


  1. Die Spielwelt war eine reine Kulisse. Night City, der Schauplatz des Spiels, wurde im Zuge der Marketingkampagne als realistischste Stadt in einem Videospiel angepriesen. NPCs (Nicht-Spieler-Charaktere) würden nachvollziehbaren Tagesabläufen nachgehen und ich als Spieler könnte auf vielfältige Weise mit der Stadt interagieren – ganz im Sinne eines immersiven Rollenspiels. Night City und sein Umland zählen für mich zu den beeindruckendsten digitalen Welten, die ich in über 20 Jahren Gaming erkunden durfte – aber da ich mit der Erwartung an Cyberpunk gegangen bin, auf ähnliche Art mit der Spielwelt interagieren zu können wie in Grand Theft Auto oder Red Dead Redemption, war ich (zunächst) hauptsächlich ernüchtert.

  2. Cyberpunk gibt sich größte Mühe, Immersion aufzubauen. Bei einem späteren Durchlauf habe ich die mir vom Entwickler gereichte Hand erkannt, beim Erscheinen des Spiels habe ich dagegen einfach nicht in die Welt hineingefunden. Dafür ist an zu vielen Ecken die Illusion gebrochen – Cyberpunk ist eben auch »nur« ein Spiel. Mich das vergessen zu lassen, ist die große Kunst. Unmöglich gemacht haben mir das NPCs, die überhaupt nicht auf mich reagiert oder sich lächerlich verhalten haben (wer würde sich nicht einfach mitten auf die Straße hocken, wenn zehn Meter entfernt Schüsse fallen?!). Dazu gesellte sich das das bis heute miserable Polizeisystem. Baue ich Scheiße, hängen mir die Cops im Nu an den Fersen. Leider ploppen sie wie aus dem Nichts in meiner Nähe auf – selbst wenn ich inmitten der Wüste oder auf einem Wolkenkratzer stehe.

  3. Hin und wieder bin ich über Bugs gestolpert, die mich amüsiert haben: Als ich mein Auto per Knopfdruck herbeigerufen habe, ist es in der Ferne explodiert und wurde meiner Spielfigur direkt vor die Füße geschleudert. Das Auto war zwar Schrott, gelacht habe ich trotzdem. Frust kam dann auf, wenn sich aufgrund von Bugs Missionen nicht abschließen ließen, zum Beispiel wenn Gegner plötzlich unter den Boden »gerutscht« sind und weder sie mich noch ich sie bekämpfen konnte.

  4. Die Rollenspiel-Elemente wirkten unausgereift. In Cyberpunk kann ich durch Levelaufstiege neue Fähigkeiten freischalten, die im frühen Spielverlauf für mich nach vorgetäuschter Tiefe geschmeckt haben. Die Sache ist: Die Spielfigur beherrscht von Anfang an bereits alle grundlegenden Fähigkeiten für den Kampf: Nahkampf, Umgang mit Schusswaffen, Hacking. Ob ich meine Figur nun dahin entwickle, dass sie mit bestimmten Waffentypen 10 % mehr Schaden verursacht, oder ich sie zu einem Hacker mache, der Gegner durch ein sich ständig wiederholendes Minispiel um 10 % anfälliger für Schaden macht, läuft letztlich aufs Gleiche hinaus: Schießen (oder schlagen) muss ich trotzdem noch.

  5. Und zu guter Letzt: die Informationsflut. Die Welt von Cyberpunk 2077 basiert auf dem Tabletop-Rollenspiel Cyberpunk, das von Mike Pondsmith entwickelt wurde und 1988 erschien. Das Tabletop-Rollenspiel trumpft mit einer ausufernden Lore (Hintergrundgeschichte) sowie unzähligen Figuren und Regeln auf, an denen sich CD Projekt Red für Cyberpunk 2077 bedienen konnte. Das haben sie auch fleißig getan: Über Night City und seine häufig schrägen Einwohner kann ich als Spieler gefühlt unendlich viel erfahren. Aber gerade weil die Figur, die ich spiele, mit der Welt bereits vertraut ist, war es für mich anfangs schwierig, einen Zugang zur Welt zu finden. Überall schnappe ich Informationshäppchen auf, von denen einige wirklich spannend sind. Zu einem größeren, greifbaren Ganzen haben sie sich aber erst nach etlichen Spielstunden in meinem jüngsten Spieldurchlauf verbunden.

Was mich dagegen von Anfang an begeistert hat, waren das Artdesign und ganz allgemein die Spielwelt mit ihren Megabauten in der Stadt und dem gegenteiligen Nichts der Wüste. Deshalb bekommt ihr in diesem Beitrag auch eine Extraportion hübscher Screenshots. :)



Das ist der Weg

Cyberpunk hat mich also recht schnell ernüchtert zurückgelassen, so ernüchtert sogar, dass ich interessierten Arbeitskollegen eine Präsentation darüber gehalten habe, warum Cyberpunk kein gutes Spiel ist – außerhalb der Arbeitszeit, versteht sich. Aber wirklich losgelassen hat es mich trotzdem nicht. Das Potential des Spiels habe ich grundlegend gesehen, und das letzte große Rollenspiel des Studios, The Witcher 3, hat mich vor einigen Jahren ziemlich begeistert. Als ich mir schließlich eine Xbox Series X zugelegt habe, Cyberpunk einen großen Patch erhalten hat, der viele Probleme ausmerzen konnte, und das Spiel noch dazu im Angebot war, habe ich (zum zweiten Mal) zugeschlagen. Am PC spiele ich ohnehin nicht gerne, und ich hatte Lust, die neue Konsole mit diesem Monster eines Spiels an ihre Grenzen zu bringen.


Auch beim zweiten Anlauf hat sich Cyberpunk 2077 Zeit gelassen, bis es mich wirklich gepackt hat. Aber als es so weit war … oh boy, schnallt euch an.


Die Interaktivität von Videospielen, durch die sie sich von Filmen und anderen Unterhaltungsmedien abheben, ist Fluch und Segen zugleich. Segen, weil eben jene Interaktivität für eine Immersion sorgen kann, die Filme (für mich) niemals erzeugen können. Fluch, weil Interaktivität immer ihre Grenzen hat. Wenn Spieler an diese Grenzen stoßen, wenn sie Dinge im Spiel tun möchten, die vom Entwickler weder vorgesehen noch eingebaut wurden, kann das ein Spaß- und Immersionskiller sein. Entsprechend hat jedes Videospiel eine vom Entwickler vorgesehene Art, wie es gespielt werden soll. Gute Spiele schaffen es, mir diese Art zu vermitteln und mich unauffällig zu leiten. Cyberpunk schafft das auch, nur war ich in diesem konkreten Fall vom Marketing bereits so beeinflusst, dass ich »falsch« an den Titel herangegangen bin.


Erwartet habe ich eine Stadt voller Möglichkeiten à la Los Santos aus Grand Theft Auto V (2013), bekommen habe ich eine Kulisse, die hauptsächlich von den Menschen lebt, die sie beheimatet. Denn Cyberpunk legt seinen Fokus ganz klar auf die Geschichte und die hervorragend geschriebenen Figuren, die ich auf meiner Reise treffe: Ich, das ist im Fall von Cyberpunk 2077 »V«, eine geschickt geschlechtsneutral benannte Hauptfigur, die ich vor Spielbeginn in einem Character Editor nach meinen Vorstellungen gestalten kann – bis hin zur Wahl, ob der eigene Penis mit oder ohne Vorhaut daherkommt, sollte ich mich für einen männlichen Körper entscheiden. Dieser Detailgrad mag übertrieben wirken, wie ein reiner Marketing-Gag, steht aber sinnbildlich für das, was V in Night City erwartet: eine Welt in nicht allzu ferner Zukunft, in der es als völlig normal gilt, den eigenen Körper zu modifizieren. Das reicht von Geschlechtsumwandlungen und Schönheits-OPs bis hin zur Erweiterung der Sinne durch Technik-Implantate. Night City ist eine Stadt, in der jeder sein kann, wer er möchte – eine Art American Dream 2.0, bei dem die größte Herausforderung ist, inmitten von Hyperkapitalismus und alle den Möglichkeiten, den eigenen Körper so weit anzupassen, bis er von einem Roboter nicht mehr zu unterscheiden ist, die eigene Menschlichkeit nicht zu verlieren. Damit kämpfe ich als V, genau wie alle anderen Einwohner von Night City – jeder auf seine Art.


Überfall in Cyberpunk 2077
V macht sich ständig die Hände dreckig – mal mit, mal ohne Konsequenzen.

Als V verdiene ich mir durch Aufträge sogenannter Fixer mein Geld. Fixer, das sind Vermittler, die nicht ganz so gesetzestreue Auftraggeber mit nicht ganz so gesetzestreuen Problemlösern zusammenbringen. Zu einem besonders großen Gig können mein »Arbeitskollege« Jacky und ich nicht nein sagen: Wir sollen einen Chip aus dem Hauptquartier Arasakas stehlen, dem mächtigsten Megakonzern der Stadt. Die Chancen stehen ganz klar gegen uns, trotzdem schlagen wir ein. Der Gig läuft gut, bis wir mit dem Chip in der Hand überstürzt aus dem turmhohen Gebäude verschwinden müssen. Um die kostbare Beute zu schützen, schiebe ich den Chip in einen der Ports hinter meinem rechten Ohr … mit Folgen. Der Chip ist ein sogenanntes Relic, eine experimentelle Technologie, die das Bewusstsein eines Menschen losgelöst von seinem Körper beheimatet. Das Bewusstsein, das ich mir durch mein unüberlegtes Handeln eingefangen habe, ist das von Johnny Silverhand, einem Rockstar und Terroristen, der vor vielen Jahren bei dem Versuch, den Hauptsitz von Arasaka mit einer Atombombe in die Luft zu sprengen, ums Leben kam. Johnnys Geist beginnt langsam, meinen eigenen zu überschreiben. Ich muss handeln, denn ein Verlust meines eigenen Bewusstseins – meines Geistes, meiner Seele – gleicht dem Tod.


Nebenmissionen in Perfektion

Ab diesem Punkt treffe ich in den in spärlicher Anzahl vorhandenen Hauptmissionen eine Handvoll teils skurriler, teils überaus menschlicher Figuren, mit deren Hilfe ich versuche, das Relic und Johnny Silverhand buchstäblich aus meinem Kopf zu bekommen. Was Cyberpunk hierbei enorm gut gelingt und es von anderen Spielen des Open-World- und Rollenspiel-Genres unterscheidet, ist die Dynamik, mit der sich die Geschichte um V herum aufbaut. Anfangs habe ich mich daran gestört, wie Cyberpunk in seinen Hauptmissionen ständig neue Figuren etabliert, die dann in der nächsten Mission von anderen ersetzt werden.


Brendan in Cyberpunk 2077
Über Brendan stolpere ich zufällig. Er ist ein Getränke- und Snackautomat mit empathischer KI, die Freundschaften schließt.

Was mir erst im Laufe des Spiels klar werden konnte: Auf viele der Figuren treffe ich außerhalb der Hauptmissionen wieder – häufig, indem sie sich bei V melden. So helfe ich in einer Reihe von Nebenmissionen Braindance-Editorin Judy, über den Tod einer Freundin hinwegzukommen, eben jene Freundin zu rächen und Judy dabei immer besser kennenzulernen. Je nachdem, wie ich mich ihr gegenüber verhalte, kann ich sogar eine Beziehung zu ihr eingehen. Dadurch verdiene ich mir nicht nur den Schlüssel zu ihrem Apartment, das V als Rückzugsort und »Basis« dient, sondern bekomme auch immer wieder teils herzerwärmende, teils verdammt lustige Nachrichten, zum Beispiel wenn Judy mit Freundinnen feiern geht und sich betrunken meldet. Cyberpunk schafft es durch diese Form der Nebenmissionen, die häufig aufeinander aufbauen, mich an die Figuren aus Night City zu binden. Ich als Spieler hatte ab einem Punkt den ausgeprägten Wunsch, das Leben meiner (virtuellen) Kumpanen zu bereichern, sie zu unterstützen oder einfach mit ihnen Spaß zu haben.


Bei einem Braindance (kurz: BD) handelt es sich um eine Art Virtual-Reality-Erfahrung, die auf den Erlebnissen realer Personen beruht.

Die Nebenmissionen sind damit der eigentliche Star des Spiels – zumindest für mich. Denn sie erfüllen neben dem genannten Zweck noch einen weiteren: Sie haben maßgeblich Einfluss auf die Hauptgeschichte, vor allem auf die letzte Mission und den Ausgang der Geschichte rund um das Relic in Vs Kopf. Keine Angst, dieser Text bewegt sich auch weiterhin im Rahmen der Spoilerwarnung. Gesagt sei nur so viel: Cyberpunk 2077 hält eine Vielzahl an Enden bereit, die sich teils grundlegend voneinander unterscheiden. Das Besonderes ist hier, dass diese Aussage nicht nur auf die Erzählebene zutrifft, sondern auch auf die Spielebene: Es gibt nicht nur eine finale Mission, sondern diverse, von denen jedoch nur eine tatsächlich gespielt werden kann. Welche das ist, beeinflusse ich durch Entscheidungen, die ich gegen Ende des Spiels treffen muss – und die mich wirklich lange haben grübeln lassen. Welche Entscheidungen (und damit welche Missionen und Enden) zur Wahl stehen, hängt wiederum stark von den absolvierten Nebenmissionen ab. Dadurch sind jene Nebenmissionen nicht mehr nur ein netter Zeitvertreib oder gar künstlicher Spielzeitstrecker. Stattdessen sind sie ein essenzieller Teil der Spielerfahrung – und das kenne ich in so ausgeprägter Form von keinem anderen Rollenspiel.



Johnny Silverhand – Rockstar, Terrorist, Erzähler

Wer in diesem Text bislang noch zu kurz gekommen ist, ist Johnny Silverhand, der Jahre nach seinem Tod eine neue Heimat im Kopf der Hauptfigur V gefunden hat. Gespielt wird Johnny von Keanu Reaves, der im Zuge der Promotion des Spiels für den einen oder anderen Hypeausbruch gesorgt hat. Im finalen Spiel erscheint er V als eine Art Hologramm – oder vielmehr als zweites Ich, das alles mitbekommt, was V über ihre Sinne erfährt. Seine Rolle in der Geschichte habe ich bereits kurz beschrieben: Sein digitalisiertes Bewusstsein überschreibt zunehmend das von V. Viel mehr möchte ich dazu nicht verraten, da ich es spannend fand herauszufinden, ob Johnny selbst aktiv an diesem Überschreiben mitwirkt oder nicht.


Er erfüllt aber noch einen weiteren Zweck: Er ist ein konstanter Gesprächspartner für V und gewissermaßen ein Erzähler, wenn auch kein zuverlässiger. Er kennt Night City, wie es vor rund fünf Jahrzehnten war, und kommentiert immer wieder Änderungen, die ihm auffallen. Das hilft mir als Spieler enorm, in die komplexe Welt hineinzufinden, schließlich kann ich das nicht gemeinsam mit V tun – sie kennt die Stadt ja bereits.


CD Projekt Red lösen mit Johnny als Erzähler ein Problem, das Spiele wie Horizon Forbidden West (2022) plagt: In diesem plappert Hauptfigur Aloy konstant vor sich hin. Oh, eine alte Ruine. Die könnte mal eine Klinik gewesen sein. Oder: Oh, eine Pflanze. Die sollte ich zu einer Salbe weiterverarbeiten. Das ergibt zwar einerseits Sinn, schließlich werden Spielern auf diese Art Informationen über die Welt sowie Hinweise zu Spielmechaniken vermittelt, aber gleichzeitig wirkt diese Form der Informationsvermittlung unnatürlich. In Cyberpunk geschieht im Grunde das Gleiche, nur werden besagte Informationen in Gesprächen zwischen V und Johnny vermittelt. Erledige ich eine x-beliebige Open-World-Aktivität, wie die Jagd auf sogenannte Cyberpsychos, erscheint Johnny immer wieder wie aus dem Nichts und kommentiert das Geschehen. Das wertet selbst die langweiligsten Open-World-Klischee-Aufgaben auf.


Wer seinen Körper zu schnell mit zu vielen Implantaten verändert, droht, den Verstand zu verlieren. Diese Menschen werden Cyperpsychos genannt – und sind brandgefährlich.

Plantage in Cyberpunk 2077
Ein letzter Blick auf Night City, bevor es Zeit wird, sich anderen Spielen zu widmen.

Abspann

Als mir klar wurde, dass es mehrere finale Missionen gibt, war mein erster Impuls, nach dem Durchspielen einen alten Spielstand zu laden, um auch die anderen Enden zu sehen. Als der Abspann dann aber über meinen Fernseher lief, war ich mit dem Ausgang der Geschichte wirklich zufrieden und habe Cyberpunk deinstalliert. Ich habe meine Version der Geschichte rund um V und Johnny Silverhand erlebt und damit meine persönliche Wahrheit, was sich in Night City im Jahr 2077 zugetragen hat, geschaffen. Umso mehr Spaß macht es jetzt, sich mit anderen Spielern zu unterhalten und zu diskutieren, an welcher Stelle im Spiel sie anders abgebogen sind als ich … und welche Folgen das nach sich gezogen hat.


Eine kleine Empfehlung zum Schluss: Wenn ihr unsicher seid, ob euch das Setting zusagt – und selbst wenn ihr schon angefangen habt, Cyberpunk 2077 zu spielen – schaut euch den Anime Cyberpunk: Edgerunners (2022) auf Netflix an. Er ist mit zehn Folgen kurz und dadurch »snackable«, gibt der fiktionalen Stadt Night City aber immens viel Charakter und Tiefe.


(Alle Bilder innerhalb des Beitrags sind Screenshots aus Cyberpunk 2077, CD Projekt Red 2020)

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